Tagblatttitel 150 Jahre Landeskirchen: „Es gibt nur einen Himmel im Thurgau“
Die beiden Landeskirchen feiern ein Jubiläum: 150 Jahre gibt es sie jetzt schon. Die Kulturleistung der damaligen Politiker und Kirchenmänner finde ich beachtenswert. Aber ich bin kürzlich ziemlich erschrocken: die Evangelische Landeskirche der Kantons Thurgau stellt sich auf ihrer Homepage prominent mit dem Glaubensbekenntnis von 1874 vor: «Wir glauben an Gott, den allmächtigen Vater und Schöpfer, der uns berufen hat zu seiner Kindschaft und zum ewigen Leben, an Jesus Christus, den Sohn Gottes, in welchem wir die Erlösung haben von unseren Sünden und die Versöhnung mit Gott, und an den heiligen Geist, der uns erneuert nach dem Bilde Gottes zu wahrhafter Gerechtigkeit und Heiligkeit. Amen.»
Ich erlaube mir einige Bemerkungen:
- 1874: wir leben im Jahre 2020.
- Der „allmächtige Vater“: Sexueller Missbrauch durch den eigenen Vater ist erschreckend häufig. Wie sollen Frauen einem Vater-Gott vertrauen können, wenn sie so entwürdigende Erfahrungen mit dem eigenen Vater gemacht haben?
- Und wie kommen sich Frauen vor, die von einem Mann vergewaltigt worden sind? Auch ihnen ist Grundvertrauen zerstört worden.
- Wie sollen Frauen (und übrigens auch Männer!), denen feministische Anliegen zentral sind, in dieser Formulierung ihre eigenen Überzeugungen wieder finden?
- Wo bleibt die mütterliche Seite Gottes?
- „Wir glauben“: immer noch verwechselt die Evangelische Landeskirche des Kantons Thurgau „glauben“ mit „glauben an“ oder noch schlimmer mit „etwas (Widersinniges) für wahr halten“. Wie steht es da mit der intellektuellen Redlichkeit? Ich ziehe immer noch „Ich vertraue Gott“ vor.
- „Kindschaft“: in Kombination mit dem „allmächtigen Vater“ wirkt „Kindschaft“ (was einst ein befreiendes Bild für „geliebt sein“ war) geradezu infantil. „In Gott fühle ich mich geborgen“ wäre mir lieber.
- „Sünden“ Fehlende Geborgenheit bewegt weit mehr Menschen als die Sünde.
- Wie weit sind in diesem Glaubensbekenntnis überhaupt authentische Erfahrungen heutiger Menschen aufgenommen? Ist dieses Bekenntnis nicht bloss noch Erinnerung ohne Gegenwartsbezug?
- Viele Zeitgenossen kommen mit ihren Erfahrungen und Überzeugungen in diesem Glaubensbekenntnis schlicht nicht vor.
Es geht nicht darum, Zeugnis abzulegen, sondern Zeuge zu sein. Und es geht nicht um Anpassung, sondern um Authentizität. Lädt eine Kirche, die Glaubensbekenntnisse für so wichtig hält, nicht eher zum Verweilen ein statt zum Aufbrechen? Ich halte es für dringend notwendig, dass die Evangelische Landeskirche des Kantons Thurgau in einen Diskurs über Glaubenserfahrungen eintritt. Gerade jetzt, wo so grundlegend unterschiedliche Lebensentwürfe diskutiert werden, scheinen mir diese Überlegungen unausweichlich.
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